Viele webbasierte Kommunikationswege, digitale Projekte und technische Innovationen haben im Fahrwasser der Corona-Pandemie ihren Weg in den Versorgungsalltag gefunden. Um die Kontinuität der Versorgung ohne Gefährdung der Patient:innen zu gewährleisten, wurden auf breiter Basis Video-Angebote gemacht. Mit der zunehmend entspannteren Covid-19 Lage stellt sich die Frage, welche der digitalen Errungenschaften ihre prozessunterstützende Wirkung für den Praxisalltag nach der Pandemie sichtbar machten.
Prof. Dr. Dr. Konrad Obermann, Forschungsleiter der Stiftung Gesundheit: „Die Medizin hat in den vergangenen Wochen gezeigt, wie sie aus der Not eine Tugend macht und sich schnell an neue Umstände anpasst, um die Kontinuität der Versorgung zu gewährleisten.“
Die Akzeptanz der Video-Sprechstunde bei Ärzt:innen ist aufgrund der Corona-Erfahrungen stark gestiegen. 2017 lehnten noch fast 60 Prozent der Ärzt:innen und (psychologische) Psychotherapeut:innen die Videosprechstunde ab. Hingegen gaben im April 2020 mehr als die Hälfte der 2.240 Befragten an, die Videosprechstunde zu nutzen; bei der „sprechenden Medizin“ waren es sogar mehr als 80 Prozent. Datenschutz betrachteten die Nutzer aktuell nur nachrangig als mögliche Hürde, im Gegensatz zu früheren Befragungen.
„Die Videosprechstunde scheint ein Lösungsmodul über die akute Situation hinaus und über alle Fachgebiete hinweg zu sein“, erläutert Dr. med Philipp Stachwitz, Schmerztherapeut und Director Medical Care beim hih. „Die Zustimmung war bei der sprechenden Medizin mit über 80 Prozent besonders hoch. In dieser Gruppe gab eine große Mehrheit an, diesen Kommunikationskanal auch nach der Pandemie weiter nutzen zu wollen. Und das, obwohl die sprechende Medizin vor der Pandemie Videosprechstunden nahezu gar nicht verwendete.“ Nun gaben 60 Prozent der ärztlichen Videosprechstunden-Nutzer an, ihre Patienten aufgrund der Pandemie auf die Video-Möglichkeit hingewiesen zu haben. 30 Prozent wurden sogar aktiv von Patienten nach der Möglichkeit von Videosprechstunden gefragt.
Gerade psychisch belastete Menschen haben während der Pandemie einen erhöhten Betreuungsbedarf, aber auch chronisch Erkrankte sahen sich vor neuen Herausforderungen, um den für sie gefährlichen Gang in die Arztpraxis zu vermeiden. Diese Bedarfe konnten vor dem Hintergrund des Infektionsschutzes mithilfe der Videosprechstunde aufgefangen werden.
Der starke Anstieg in der Nutzung der Video-Sprechstunde im Zuge der Pandemie wurde insbesondere dadurch ermöglicht, dass sämtliche regulatorischen und technischen Voraussetzungen gegeben waren. Dazu gehörten verabschiedete Vergütungsregelungen ebenso wie von der KBV zertifizierte Anbieter. So konnten „plug and play“ Lösungen rasch in die Anwendung überführt werden. „Hier zeigt sich, wie wichtig die Arbeit an den Rahmenbedingungen der Digitalisierung für den Erfolg ist”, erklärt Julia Hagen, Director Regulatory & Politics beim hih.
Auch wenn für nahezu die ganze Bandbreite der Fachgebiete der Nutzen dieser „neuen“ Möglichkeit sichtbar wurde, ergeben sich dennoch Einschränkungen. Individuelle Kommentare der Befragten zeigen, dass die operativen Fachgebiete allenfalls in Aufklärung und Nachsorge von der Videomöglichkeit profitieren; die Psychotherapeut:innen geben an, dass einige Patientengruppen stark, andere weniger profitierten. Gerade ältere Patient:innen sind oftmals technisch überfordert, hatten keine Endgeräte oder waren nicht in der Lage, diese adäquat zu bedienen. Auch reichten in einigen Regionen die Bandbreite bzw. die Verfügbarkeit nicht aus, um ein stabiles Angebot nutzen zu können.
„Die Medizin hat in den vergangenen Wochen aus der Not heraus einen Digitalisierungssprung um 3-5 Jahre gemacht“, stellt Prof. Dr. Jörg Debatin, Chairman des hih fest. Das zeigt die Studie bei der Beantwortung der Frage nach Nutzung der Videosprechstunde nach der Pandemie. So wird die Videosprechstunde von Ärzten heute als relevante Ergänzung für den persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt gesehen. Eine große Mehrheit gibt an, fortan dauerhaft Videosprechstunden für einen Anteil von bis zu 20 Prozent ihrer Patientenkontakte einsetzen zu wollen. Und für viele ist das Angebot ausbaufähig auch über die 20-Prozent-Marke hinaus. In der sprechenden Medizin hält sogar mehr als die Hälfte der Befragten einen hohen bis sehr hohen Anteil von Videosprechstunden an ihren Patientenkontakten für möglich.
Daneben bleiben Einschränkungen bestehen. So ist eine asynchrone Kommunikation zwischen Arzt und Patient im Regelwerk bislang nicht vorgesehen. Selbstverständlich kann und soll die Videosprechstunde den Kontakt vor Ort in der Praxis auch nicht vollständig ersetzen. Sie stellt lediglich eine zusätzliche Form der Arzt-Patienten-Interaktion dar, die dauerhaft das Spektrum des ärztlichen und psychotherapeutischen Handelns erweitert und bereichert. Entsprechend bringt eine Teilnehmerin der Befragung ihre Erfahrungen mit der Videosprechstunde auf den Punkt: “Besser als gedacht!”
Die ganze Studie finden Sie hier: Studie Zur Videosprechstd Hih SG
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