Im neuen Health Report 2022 steht: „Die Zukunft des Gesundheitssystems war noch nie so offen wie heute.“ Mischt Corona die Zukunftskarten neu?
Durch die Pandemie werden etliche Wahrheiten neu justiert. Gesundheit wird wichtiger und in Zukunft umfassend definiert: Neben der Abwesenheit von Krankheit geht es zunehmend um Wohlgefühl und Leistungsfähigkeit. Aber eben auch um Vorsorge und eine neue Form des Immun-Boostings. Corona hat gezeigt, dass wir verletzlicher geworden sind. Wir müssen unsere individuelle und öffentliche Für- und Vorsorge weiter ausbauen.
Welche Trends werden die Post-Corona-Welt prägen?
In erster Linie Konnektivität (Digitalisierung) und Sicherheit, New Work und Urbanisierung sowie Neo-Ökologie. Die Gesundheitstrends, die sich daraus ableiten, haben viel mit der Sehnsucht nach Lebensqualität und Wohlbefinden zu tun sowie dem Wunsch, sich gesundheitlich gut aufgehoben zu fühlen und den anderen vertrauen zu können. und sich gesundheitlich aufgehoben zu fühlen. Die Träger des Gesundheitssystems wie Kassen, Kliniken, Ärzte und Apotheker bekommen dadurch einen anderen Stellenwert. Ihnen wird mehr zugetraut, aber auch zugemutet von den Patient:innen. Auch die Bereitschaft zu Eigenverantwortung und -initiative wird zunehmen. Hier beobachte ich eine Reihe von spannenden Entwicklungen: angefangen von Femtec, über das Thema Hanf, eine Neudefinition von Arbeitsmedizin, das Leben mit Haustieren („Healthy Pet-ing“) bis hin zur neuen Sehnsucht nach Berührung (Beroring). Wo sie selber gefragt sind, versuchen die Menschen, die Dinge näher an sich heranzulassen und ihre Gesundheit aktiv zu verbessern und Krankheiten zu vermeiden.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Kliniken?
Die Kliniken haben eine große Chance, ihr Profil zu schärfen und als eine Marke wahrgenommen zu werden. Sie sind nicht nur ein Träger von Gesundheit, sondern auch ein Ort, an den man sich auch bewusst hinwendet. Sie können die Brücken schließen zwischen ambulant und stationär, privat und gesetzlich finanziert. Mit den vier Szenarien haben wir einen stärker digitalisierten und einen stärker individualisierten Ansatz versucht. Sie können sich von der reinen Notfallversorgung hin zu einem eher holistischen, ganzheitlichen System entwickeln und dabei auch die Angebote der Gesundheitspartner von der Apotheke bis hin zur Physiotherapie stärker integrieren.
Einer der Karrierebegriffe in der Pandemie ist „mental health“. Was bedeutet der Begriff und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
Mental health ist ein Trendbegriff für ein altes Thema, das wir jetzt stärker in den Fokus nehmen. Gesundheit ist immer die Gesundheit von Körper, Geist und Seele. Die großen Unsicherheiten und Bedrohungen, die wir alle jetzt mit Corona erleben, befördern diesen Trend. Die Gruppe, die am stärksten in Mitleidenschaft gezogen wird, sind Kinder und Jugendliche, die in ihrer Entwicklung durch Corona ausgebremst werden. Wir müssen ihnen dabei helfen, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden und das Gefühl, ausgeliefert zu sein, zu durchbrechen. Dabei können auch Apps helfen. Vor allem aber braucht es eine neue gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit für die ganzheitlich verstandene Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, in die die verschiedenen Träger dieses Systems mit einbezogen werden.
Stichwort Apps: die Digitalisierung des Gesundheitssystems hat durch Corona einen regelrechten Boost erfahren. Wie wird es nach Corona weitergehen?
Die Akzeptanz für digitale Medizin und ihre Tools ist so hoch wie nie. Die Menschen machen positive Erfahrungen mit digitalen Hilfestellungen. Diese Impulse haben vor Corona gefehlt. Und sind jetzt vor dem Hintergrund der Pandemie wie ein Platzregen in unser Leben gekommen. Menschen brauchen aber mehr als Technik. Die App ersetzt nicht den Arzt, ergänzt und vereinfacht aber seine Hilfestellung. Anbieter und wir alle müssen immer auch die technologischen Grenzen beachten und nach dem Prinzip von High Tech versus High Touch neu justieren. Einfache Angebote und Ratschläge lassen sich über Social Bots oder automatisierte Antworten erteilen, je komplexer die Fragestellung oder je gravierender das gesundheitliche Problem, um so wichtiger bleibt der Mensch als fühlender und ganzheitlich denkender Ansprechpartner in Form von Pflegenden, Apotheker:innen, Ärzt:innen usw.
Was lehrt uns Corona am Ende?
Das Zeitalter der Hyperindividualisierung geht mit Corona zu Ende. Achtsamkeit und Selbstwirksamkeit bedingen sich. Wir Menschen sind jetzt stärker auf der Suche nach Resonanz und Gemeinschaft. Wir versuchen Verantwortung für uns selbst zu übernehmen, um damit auch besser für andere da sein zu können. Diese Erfahrung bringt den Einzelnen genauso in eine Balance zurück für die Gesellschaft und das gesamte Ökosystem unseres Planeten.
Corinna Mühlhausen ist Trendforscherin und Autorin des Health Report 2022.
Link: www.zukunftsinstitut.de
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