Seit zwei Monaten sind die DiGA nun in der Praxis angekommen, das Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte wächst langsam aber stetig. Neuester Zuwachs ist Invirto als erste digitale Psychotherapie gegen Angststörungen für Zuhause, bestehend aus zwölf Stunden psychotherapeutischem Schulungsmaterial und VR-Bildmaterial für die typischsten Angstsituationen soll sie in Verbindung mit Präsenztherapie mehr Patient:innen zu einem schnelleren Behandlungszugang verhelfen. Gegründet hat sich das Unternehmen Sympatient aus einer entsprechenden Pilotstudie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein zum Thema Simulationen in der Angstbehandlung.
Für welche Patient:innen eignet sich die von Ihnen entwickelte digitale Therapie Invirto?
Wir haben uns mit Invirto auf die Behandlung bestimmter Angststörungen konzentriert: die Agoraphobie, einer starken Angst davor, an öffentlichen Orten die Kontrolle zu verlieren oder keine Hilfe zu bekommen im Notfall, soziale Phobie, bei der Patienten Angst davor haben, in sozialen Situationen im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und Panikstörungen, bei denen Patient:innen jederzeit Panikattacken aus scheinbar heiterem Himmel befürchten. Diese Angststörungen sind gemeinhin mit dem Behandlungsstandard einer kognitiven Verhaltenstherapie mit Expositionstraining eigentlich gut zu behandeln, so die Betroffenen die Möglichkeit bekommen, eine Therapie zu beginnen. Da setzen wir an: Patient:innen können die Inhalte von Invirto zuhause mithilfe einer App absolvieren und werden von einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten begleitet. Im Durchschnitt braucht es zirka acht Wochen bis Patient:innen eine deutliche Besserung berichten, und wieder stärker am Alltag teilnehmen können. Die Voraussetzung dafür ist jedoch – ein/e Therapeut:in. Und die sind, da erzähle ich Ihnen nichts Neues, sehr rar. Mit Invirto als digitalbasierte Therapie Alternative zu einer klassischen Therapie muss der Behandelnde weniger Präsenzstunden einplanen und kann so mehr Patient:innen betreuen.
Wie werden diese Patient:innen heute klassischerweise behandelt?
Klassisch erhalten Patient:innen zunächst viele Informationen zu ihrem Störungsbild und lernen, warum sich die Angst so hartnäckig hält. Kernstück der Behandlung ist dann, dass Patient:innen von Therapeuten begleitet oder allein in angstbesetzte Situationen gehen, um eine neue Erfahrung mit der Angst zu ermöglichen und diese dann gemeinsam in und nach der Situation weiter zu bearbeiten. Das ist genauso aufwendig, wie es klingt.
Was sagen die psychologischen Psychotherapeut:innen, denen Sie Invirto vorstellen?
Wir haben überraschend schnell positives Feedback bekommen. Was natürlich auch damit zusammenhängt, dass die Lösung am UKSH entwickelt und pilotiert wurde und von einem Team an Psychotherapeut:innen mit viel Erfahrung in der Angstbehandlung entwickelt wurde. Aber wir nehmen auch niemandem irgendwas weg, im Gegenteil, Invirto bietet den Therapeut:innen und Patient:innen eine weitere Option die Expositionstherapie durchzuführen. Gerade in dieser Zeit, wo Pandemie-bedingt viele Expositionstherapien nur schwierig durchzuführen sind, erhalten wir viel positives Feedback.
Als Therapeut:in bietet man motivierten Patient:innen damit auch eine neue Möglichkeit: Eine therapeutisch begleitete Möglichkeit, bereits selbst mit der Arbeit gegen die Angst zu beginnen.
In welchen Situationen fühlen sich die Betroffenen in ihrem Alltag eingeschränkt und wo setzt Invirto an?
Angststörungen begleiten die Patient:innen durch ihren gesamten Alltag; auch wenn die Situationen nicht jeden Tag vorkommen, so schwingt die Angst in eine solche zu geraten, jeden Tag mit. Plötzlich ist der Besuch eines Supermarktes ein riesiges Problem oder jede soziale Situation wird zu einer echten Prüfungssituation. Da fällt ein normaler Alltag natürlich schwer, geschweige denn ein befreites soziales Leben.
Invirto setzt an verschiedenen Punkte an, um die Patient:innen zu unterstützen: Zunächst werden viele Informationen zur Erkrankung und zu Angst vermittelt, dazu, wie eine Angststörung entstehen kann und was sie aufrecht erhält. Dann lernen Patient:innen Techniken, wie sie ganz praktisch in ihrem Alltag wieder besser mit ihrer Angst umgehen können. Ein wichtiger Teil der Behandlung im zweiten Dritte ist dann die sogenannte Exposition. Wir haben mit Invirto VR-Bildmaterial für die häufigsten Angstsituationen entwickelt, die die Patient:innen individuell abrufen können, um eine neue Erfahrung mit der Angst zu machen.
Gibt es unterschiedliche Level? Und wie finde ich die für mich richtige „Dosis“ heraus?
Letztlich entscheiden Nutzer:innen selbst über das Tempo und die Intensität ihrer Behandlung – das ist ja auch ein großer Vorteil der digital-basierten Behandlung. „Level“ gibt es nicht unbedingt aber die Behandlung baut schrittweise das Wissen und Techniken zur Bewältigung der Angst auf und orientiert sich dabei an der S3-Leitlinie für Angststörungen. Die App gibt einem immer direktes Feedback, sodass man seine Fortschritte beobachten kann. Die Nutzer:innen können die Behandlung in ihren Alltag integrieren, wie es gut für sie ist. Nach unserer Erfahrung beläuft sich die durchschnittliche Behandlungsdauer auf gut acht Wochen.
Im Zusammenhang mit den DiGA Verordnungen, die lediglich Verschreibungszeiträume von 30T / 60 T oder 90 T vorsehen, haben wir uns entschieden, um jedweden Behandlungszeitraum unterstützen zu können, dass die VR Brille bei den Patient:innen verbleibt und diese außerdem ein ganzes Jahr Zugriff auf die Inhalte haben. So können die Übungen auch nach Abschluss der Therapie bei Bedarf wiederholt werden und den Patient:innen eine zusätzliche Hilfe im Alltag sein. Sowohl die Hardware, als auch der zwölfmonatige Zugang zur DiGA sind im Preis der DiGA von 428,40 Euro enthalten.
Digitale Gesundheitsanwendungen müssen innerhalb der ersten zwölf Monate ihrer Verschreibungsmöglichkeit evaluiert werden – was sind Eure Messpunkte, an denen Ihr die positive Nutzenhypothese bestätigt seht?
Unsere positive Nutzenhypothese besteht in erster Linie in einer Reduktion der Angstsymptomatik einer Agoraphobie, Panikstörung oder einer sozialen Phobie. Angstpatientinnen und -patienten leiden unter belastenden körperlichen und psychischen Symptomen und sind in ihrem Bewegungsradius durch die mit Angst einhergehende Vermeidung ganzer Lebensbereiche stark eingeschränkt. Durch die Verbesserung der Angstsymptomatik und das erneute Aufsuchen vorher vermiedener Situationen werden häufig auch begleitende Folgen der Angststörung behandelt, sodass das psychische, soziale und berufliche Funktionsniveau wieder verbessert wird und ein Teilhabe am alltäglichen Leben ermöglicht. Diese Parameter erheben wir deshalb ebenfalls. Durch die Reduktion der Angstsymptomatik und die Steigerung des Funktionsniveaus wird außerdem die Lebensqualität gesteigert.
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