Bislang ist eine Parkinsonerkrankung trotz vieler Forschungsergebnisse weder aufhaltbar noch heilbar. Jedoch können viele Symptome medikamentös und durch parkinsonspezifische rehabilitative Therapiemaßnahmen gelindert werden. Dafür gilt, je genauer sich die Patient:innen beobachten und kennen, desto individueller und besser lassen sich die Medikamente anpassen. Dr. med. Julia Müllner, Oberärztin am Zentrum für Parkinson und Bewegungsstörungen am Inselspital Bern, hat gemeinsam mit der Firma Skyscraper Software, einem ärztlichen Kollegen und einem Physiotherapeuten sowie IT-affinen Patient:innen die Swiss Parkinson-App entwickelt, die u.a. das regelmäßige Monitoring der Symptome erleichtert, die Patienten an die Medikamenteneinnahme erinnert und den behandelnden Ärzt:innen eine fundierte Datenbasis über die Symptome und die Compliance der Patient:innen liefern kann.
Welches vornehmliche Ziel verfolgen Sie mit der Nutzung der Swiss Parkinson-App für Ihre Patient:innen?
Erst einmal geht es nicht nur um meine Patient:innen, sondern um Parkinsonbetroffene jeden Alters und in jedem Stadium der Krankheit sowie auch um deren Angehörige. Unser Ziel ist es, den Zeitraum im welchem die Betroffenen selbstbestimmt und unabhängig von Fremdhilfe leben können zu verlängern und das Bewusstsein dahingehend zu schärfen, dass das eigene Verhalten direkten Einfluss auf den eigenen Zustand hat.
Durch eine gute medikamentöse Einstellung und Verbesserung der Compliance bzgl. nicht-medikamentöser, parkinsonspezifischer Therapien wollen wir eine bessere Kontrolle der Krankheitssymptome erreichen und so die Komplikationen wie z.B. Stürze und deren Folgen reduzieren. Dass dies nicht nur funktioniert, sondern auch noch kosteneffizient ist, konnte in den Niederlanden von Prof. Dr. Bas Bloem aus Nijmegen bereits eindrucksvoll gezeigt werden.
Wie unterstützt die App diese Ziele?
Die App begleitet die Patient:innen den ganzen Tag und erleichtert ihnen die regelmäßige Dokumentation ihrer Symptome, denn ihr Smartphone haben sie immer dabei und die App erinnert sie regelmäßig an ihre Medikamente und fragt einmal pro Tag jeweils zu alternierenden Zeiten, wie die Beweglichkeit gerade ist. Die App beinhaltet eine Tagebuchfunktion zum Erfassen von Symptomen, Aktivitäten und Stürzen, Informationen zur Schlafqualität und Stimmung, sowie der Medikationsplan, der darüber hinaus mit einer Erinnerungsfunktion ausgestattet ist.
Desweiteren haben wir allgemeine Hinweise zur Parkinsonerkrankung (Symptome, Entwicklung und Therapie) zusammengestellt, Videos mit Übungen für Kraft, Koordination, Feinmotorik und Stimme sowie die Möglichkeit zur Erstellung eines individuellen Übungsprogramms.
Was haben Ärzt:innen davon, wenn ihre Patient:innen die App nutzen?
Wir haben großen Wert auf eine benutzerfreundliche Visualisierung gelegt. Bislang wurden die sogenannten Symptomtagebüchern oder Parkinsonprotokollen in Papierform von den Patient:innen nur unzureichend geführt und die Auswertung von Hand war für die Ärzt:innen sehr aufwendig. In der App können Stürze und motorische Fluktuationen graphisch dargestellt werden, zudem unterscheidet die App, ob es im ON oder im OFF zu Stürzen kam, was für die exakte Einstellung der Medikation sehr wichtig ist, außerdem werden wichtige Begleitsymptome wie Schwindel, Dyskinesien oder Stolpern vor dem Sturz beim Eintrag ins Sturzprotokoll jeweils erfragt. Ein geschützter Web-Zugang für die behandelnden Ärzt:innen und Therapeut:innen mit der Möglichkeit direkt Therapiepläne oder Medikamentenänderungen in die App des Patienten zu senden, ist in Planung.
Sie sagen, dass das Bewusstsein der Patient:innen dahingehend geschärft werden muss, dass das eigene Verhalten Einfluss hat. Wieso meinen Sie, dass das vielen nicht klar ist?
Es ist in der Tat immer wieder erstaunlich, wie groß die Diskrepanz ist zwischen dem, was man als Ärztin meint, den Patient:innen an Informationen mitgegeben zu haben, und dem, was tatsächlich bei den Betroffenen angekommen ist. Hier Informationen abrufbar zu halten, auf die die Patient:innen unabhängig von Verfügbarkeit des medizinischen Personals zugreifen können, ist für alle Beteiligten eine große Erleichterung.
Wir sehen bei unseren Patient:innen beispielsweise oftmals Schuld- und Schamgefühle bzgl. der Symptome Ihrer Erkrankung. Vielen ist auch gar nicht bewusst, dass störende Begleiterscheinungen wie vermehrter Harndrang, Verdauungsstörungen, kognitive Defizite, Depressionen oder auch Halluzinationen durch die Parkinsonerkrankung bedingt sein können und schämen sich, dies anzusprechen. Auf diese Begleitphänomene in der App aufmerksam gemacht zu werden, kann präventiv viele Ängste abbauen bzw. offene Gespräche fördern.
Was beobachten Sie sonst noch bei Ihren Proband:innen?
Sie bekommen ein besseres Gefühl dafür, wie sehr sich das eigene Verhalten auf ihren Zustand auswirkt. Das fängt bei der körperlichen Aktivität an und endet bei vergessenen Tabletten. Die Visualisierung des Tages- bzw. Wochenverlaufs und das Nachvollziehen der Gründe sorgt für ein Gefühl der Selbstwirksamkeit: Ich kann tatsächlich etwas tun, damit es mir besser geht. Ich habe Einfluss darauf, wie gut oder auch schlecht ich durch den Tag komme. Das ist etwas, was sich durch Gespräche oder Informationen nur bedingt vermitteln lässt, dass das eigene Verhalten den Umgang mit der Krankheit beeinflusst. Eine sehr wichtige Erfahrung bei einer so einschneidenden Diagnose.
Inwiefern ist die App auf die Schweiz zugeschnitten?
Die App ist weltweit verfügbar und richtet sich an alle Parkinsonbetroffenen. Derzeit kann zwischen Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch gewählt werden und sie ist kostenfrei sowohl im App als auch im Google-Play-Store verfügbar. Ich lade alle Betroffenen herzlich ein, sich ein eigenes Bild davon zu machen.
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