Das Bündnis „Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung“ hat soeben vom BMBF zusätzliche Mittel für ein „Innovationslabor für digitalisierte Pflegversorgung“ erhalten.
Prof. Jahn, Glückwunsch zur Förderung des Innovationslabors für digitalisierte Pflegeversorgung! 2022 soll es losgehen. Wie kam es dazu?
Das Labor ist eine Ergänzungsförderung der 2019 gestarteten und vom BMBF bis Ende 2025 geförderten „Translationsregion für digitalisierte Gesundheitsversorgung“. Aktuell befinden wir uns in der Phase der Beschaffung, nächstes Jahr geht es richtig los. Das Labor versteht sich als Vernetzungs- und Experimentierraum von Innovationsgestaltern aus Pflege, Technik, Wissenschaft und Gesellschaft. Im südlichen Sachsen-Anhalt stehen wir bereits heute vor einer Reihe von Herausforderungen wie dem durch den Kohleausstieg bedingten Strukturwandel, einem Fachkräftemangel und den demografischen Wandel mit einem Anstieg der Pflegebedürftigkeit, die andere Regionen in Deutschland erst in wenigen Jahren so erfahren werden. Die zentralen Erfolgsfaktoren für Nachhaltigkeit sind Infrastruktur und eine offene Innovationskultur. Gute Infrastruktur kann den Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zum Aufbau der notwendigen Kultur stark unterstützen.
Was haben Sie konkret vor?
Entwickeln wollen wir beispielsweise drohnenbasierte Medikamentenlieferung, Software für spezielle Schmerztherapie und digitale Pflegeausbildung. In der Pandemie haben wir einen Covid-Fast-Track aufgelegt und haben funktionierende Lösungen entwickelt wie die Medikamentenlieferung zur kontaktlosen Übergabe und eine DIGA für die digitale Rehabilitation für Long Covid-Patienten, die eine Betreuung zuhause brauchen Das Bündnis ist ein regionales Ökosystem für Innovationen und bietet eine Infrastruktur für alle Akteure.
Was haben die Unternehmen vom Bündnis?
Das Bündnis besteht aus über 80 Partnern, von denen viele kleine und mittlere Unternehmen der industriellen und versorgenden Gesundheitswirtschaft aus der Region sind. Dieses sind sehr innovationsaffin kommen häufig aus der IT oder Kreativwirtschaft und verfügen meist über kein eigenes FuE-Budget. Für die beteiligten Firmen geht es um die gemeinsame Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen, neue Märkte, Gewinnung von Fachkräften und langfristige Partnerschaften. Das funktioniert auf Projekteben schon sehr gut. Mit dem Labor erhält unsere regionale Innovationsgemeinschaft Zugang zu kostenintensiver Hightech bspw. im Bereich Robotik, Sensorik oder AR-VR , die gemeinsam genutzt werden kann.
Pflege und Digitalisierung sind für Viele noch zwei getrennte Welten. Digitale Gesundheit und Medizin sind dagegen weit bekannter. Warum?
Dieser Eindruck täuscht. Die Akzeptanz bei den Pflegenden ist hoch im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Viele erhoffen sich eine Entlastung durch Digitalisierung, um mehr Zeit für die Arbeit mit den Patienten zu haben. Ein zentraler Faktor ist die Akademisierung der Berufsgruppe. Im Pflegesektor haben wir eine sehr niedrige Akademisierungsquote und damit auch wenig Forschungskapazitäten. Es gibt bisher wenig Professuren an den Universitäten und bisher mit meiner Professur in Halle lediglich eine, die das Thema Versorgungsforschung auch mit Aufgaben in der Krankenversorgung verbindet. Innovationen kommen daher meist aus einer gewissen Praxisferne bzw. überwiegend aus dem technischen Bereich. Viele Lösungen lassen sich so nur schwer in den Versorgungsprozess integrieren. Andere Länder sind hier dynamischer unterwegs, weil sie viel enger mit der Praxis gemeinsam forschen. Ein zweiter Faktor ist die Einbindung der Beschäftigten in die Entwicklung passfähiger Lösungen.
Wo kann Digitalisierung Pflege konkret unterstützen?
Pflege wird zunehmend digital. Angefangen von der Tele-Pflege, über DIPAs, Robotik und Automatisierung im Bereich Logistik und Dokumentation, Entlastung von körperlich belastenden Tätigkeiten bis hin zur Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe über neuen Möglichkeiten der digitalunterstützen Kooperation. In der unmittelbaren Interaktion mit den Menschen wollen Pflegende möglichst wenig an digitale Systeme abgeben, aber dort, wo sie von dieser Interaktion abgehalten werden, können sie sich umso stärker eine Delegation der Tätigkeiten auch an technische Systeme vorstellen.
Wo steht Deutschland im OECD-Vergleich?
Wir haben ein Umsetzungsproblem. Im Forschungsbereich holen wir zwar auf, wir müssen aus innovativen Ideen aber schneller auf Wirksamkeit prüfen, in Geschäftsmodelle überführen bzw. in die Versorgung bekommen. Dafür braucht es Innovationsräume, Start-ups, Inkubatoren und Kooperationen zwischen Universitäten und Unternehmen. Als Universitätsmedizin sind wir der ideale Translator: Wir sind Wissenschaftspartner, an der Entwicklung beteiligt und Partner der Versorgung und bringen so das Verständnis für alle Seiten mit. Innovationen sind wirtschaftlich und wissenschaftlich nur dann gut, wenn sie sich auch sozial rentieren, wirksam sind und die Akzeptanz erhöhen.
Kann Digitalisierung den gordischen Knoten der Sektorentrennung im Gesundheitswesen lösen?
Allein durch Digitalisierung wird es nicht zu einer Überwindung der Sektoren kommen. Entscheidend ist ein Agieren der Gesundheitsberufe und Disziplinen auf Augenhöhe. Gesundheit und Pflege werden interprofessioneller. Digitalisierung bietet die Möglichkeit für neue Kooperationen und Berufsgruppen mit ihrer Eigenständigkeit einzubinden. Früher gab es eine strikte Trennung zwischen Therapie und Pflege. Mit einer VR-Applikation oder mit Robotik löst sich die Trennung auf. Wir brauchen bundesweit vernetzte Ökosysteme von Versorgungsregionen, die auch global kooperieren und vernetzt sind.
Wie werden sich die Gesundheitsfachberufe verändern?
Allein durch den Fachkräftemangel wird es zu mehr Entscheidungskaskaden kommen und eine Aufwertung der Pflegeberufe geben. Dadurch erhöht sich auch die Attraktivität der Berufe. Noch herrscht sehr viel Frust, weil sich die Grenzen nicht gestalten lassen. Digitalisierung betrifft alle Berufsgruppen, auch die Ärzte. Lernen können wir nur gemeinsam.
Wo steht die digitalisierte Pflege 2030?
Die Pflegenden werden zu Innovationsgestaltern. Tele-Pflege und der digitale Zugang zur Pflege werden zum Standard. Die Transparenz wird sich für Pflegeempfänger und ihre Angehörigen verbessern. Es entstehen neue Partnerschaften zwischen den Pflegenden und den Angehörigen. Es wird mehr technologische Anwendungen im Bereich der körperlichen Entlastung geben. Robotik und Automatisierung wird es v.a. bei Logistik und Prozessen geben.
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