Bereits vor Corona sind die Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen und die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage gestiegen. Professor Klaus Berger leitet seit Beginn der Nako-Gesundheitsstudie den Themenbereich der Neurologisch-Psychiatrischen Erkrankungen und gehört zu den führenden Epidemiologen und Sozialmedizinern. Welche Gruppen sind aktuell in der Pandemie besonders betroffen, wie lässt sich die Resilienz der Menschen in Zukunft stärken und welchen Beitrag kann dabei Digitalisierung leisten?
Psychische Erkrankungen haben in den letzten Jahren enorm zugenommen. Hinzu kommt, dass psychisch erkrankte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deutlich länger krankgeschrieben sind als körperlich erkrankte. Was sind die Ursachen?
Für eine Zunahme psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Schizophrenie und ähnliche in der Bevölkerung gibt es zunächst wissenschaftlich betrachtet keine Evidenz. Berichten der Krankenkassen zufolge nehmen die Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen dennoch zu. Eine mögliche Erklärung für diese Diskrepanz liegt in der deutlich höheren und verbesserten Wahrnehmung und der Entstigmatisierung der Betroffenen insbesondere im Fall von Depressionen.
Wird Corona diesen Trend verstärken?
In Krisenzeiten wie der aktuellen Pandemie kommt eine Gesellschaft ans Limit. Die Krise wirkt dann wie ein Brennglas. Diejenigen, die in normalen Zeiten Schwierigkeiten und Stress mit ihren Lebensverhältnissen haben, sind in solchen Krisensituationen besonders gefährdet. Für andere bietet die Krise auch Vorteile, weil sie beispielsweise zwischen Homeoffice und Büro wechseln können und nicht in Berufen arbeiten, wo erhöhter Stress anfällt wie jetzt im Gesundheitswesen, in den Supermärkten oder in der Logistik. Die Pandemie führt dazu, dass für einzelne Gruppen Belastungen viel stärker ansteigen. Der Schweregrad von Symptomen und Störungen, zeigen aktuelle Nako-Studien, hat sich während des ersten Lockdowns um etwa 30 Prozent erhöht.
Welche Gruppen sind besonders betroffen?
Die pandemiebedingten Belastungen und die der Gegenmaßnahmen wie des Lockdowns lassen sich nicht voneinander trennen. Insbesondere jüngere Menschen zwischen 20 und 45 Jahren hatten in der Nako-Gesundheitsstudie einen deutlichen Anstieg von Angst- und depressiven Symptomen. Betroffen sind vor allem junge Frauen, die nach wie vor diejenigen sind, die mehrfach im Lockdown gefordert werden, etwa durch Homeoffice, Homeschooling und bzw. oder die Pflege von Angehörigen. Dagegen gab es bei den Älteren ab 60 Jahren kaum einen Anstieg bei Angstsymptomen und Depressionen.
Dabei sind die Älteren unmittelbar gesundheitlich betroffen.
Auch in Pandemiezeiten verteilt sich Depressivität unterschiedlich. Ab einem gewissen Alter haben viele Menschen bestimmte Krisensituationen wie Krankheit, Trennung, den Verlust von Angehörigen bereits erlebt und gemeistert und gehen resilienter und distanzierter mit Herausforderungen wie einer Pandemie um. Im jungen Alter werden Mehrfachbelastungen und Herausforderungen emotionaler und stressiger erlebt. Auch ist für die Älteren eine Belastung etwa durch Homeschooling kein Thema mehr und die allermeisten sind im Rentenalter, das heißt nicht mehr erwerbstätig.
Gibt es Kriterien bzw. Faktoren, auf die es besonders ankommt, um mit einer solchen Krise zurecht zu kommen? Was ist für die Resilienz einer Gesellschaft besonders wichtig?
Es geht um das Leben mit Unsicherheit. Das erlernt man durch den Umgang mit Unsicherheit. Bei der nächsten Krise werden uns die Erfahrungen aus der jetzigen helfen. Die Bewältigung von Unsicherheit braucht Informationen, Vergleiche und Daten. Resilienz ist ein weiter Begriff und meint den Aufbau enger Beziehungen und von Vertrauen bereits in der Kindheit und Jugend. Bildung ist dabei ein wichtiger Faktor. Resilienz bedeutet auch, dass man aus Erfahrungen lernt und sich Methoden der Krisenbewältigung aneignet. Dazu gehört die aktive Pflege von Beziehungen.
Worin sehen Sie die Chancen der Digitalisierung bei Maßnahmen und Programmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit?
Digitalisierung bedeutet im Gesundheitssystem die Entwicklung und den Einsatz von Standards: welche Daten gebe ich wo und für welchen Zweck ein, wie sind diese Daten definiert? Daten aus der normalen Patientenversorgung müssen dann auch besser zugänglich werden, damit die breitere Datenverfügbarkeit dazu führt, dass z.B. Nebenwirkungen neuer Therapien und Komplikationen bei Erkrankungen frühzeitiger aufgedeckt werden. Hier gibt es verschiedene Initiativen, um Daten aus der Versorgung rechtssicher und datenschutzgerecht direkt und ohne Doppeltdokumentation in Forschungsdatenbanken einzugeben, z.B die BMBF geförderte Medizininformatikinitiative. Apps als eine andere digitale Anwendung können z.B. bei verschiedenen psychischen Störungen junger Menschen und junger Erwachsener im Nachgang einer Behandlung helfen, wenn es um die Kommunikation und Weiterbetreuung mit ihren Therapeuten geht. Das kann letztlich auch zu Kosteneinsparungen führen, aber nicht zu einem schlechteren Outcome auf der klinischen Seite. Diese Anwendungen sollten aber einen messbaren Vorteil bieten, etwa bei der Verbesserung der Lebensqualität, der Reduktion von Komplikationen, Rückfällen oder Arztkontakten.
Die Themen „Mental Health“ und „Workplace Wellbeing“ erreichen jetzt auch die Wirtschaft. Was können Unternehmen für die psychische Gesundheit und Sicherheit ihrer Beschäftigten beitragen?
Eine Menge. Bei der aktuellen Debatte um mehr Homeoffice muss es stärker um individuelle, flexible Lösungen gehen. Nicht jeder Beschäftigte kann zu jeder Zeit im Homeoffice arbeiten. Am Arbeitsplatz können Arbeitgeber Stressbelastungen reduzieren, indem sie mehr Rücksicht auf individuelle Tätigkeiten und Umstände nehmen. In der Logistik oder im Supermarkt ist es in einer Krise wie der jetzigen noch stressiger. Sinnvoll wäre eine Entzerrung der Arbeitszeiten, indem die Arbeitsdichte pro Tag oder Schicht reduziert wird. Wir brauchen eine Vielzahl von Modellen, um den individuellen Fällen besser gerecht zu werden. Im Krankenhausbereich z.B. war die Arbeitsverdichtung auch vor Corona bereits hoch.
Wie können wir als Gesellschaft nach Corona das „neue Normal“ gemeinsam schaffen?
Indem wir die erfahrene und gelernte Rücksicht aufeinander, die Solidarität mit unserem engeren Umfeld, in die Zukunft mitnehmen. Die Pandemie kann bewirken, dass wir wieder die kleineren Sachen schätzen, etwa den Urlaub in der Region, das gemeinsame Kochen und Essen. Wir haben in dieser Krise auch gelernt, welche Kontakte uns eigentlich wichtig sind. Es ist leichter, das Glas als halbvoll zu betrachten, wenn wir das, was wir lernen können und müssen, auch pragmatisch anwenden.
Prof. Dr. Klaus Berger ist Facharzt für Neurologie und Direktor des Instituts für Epidemiologie und Sozialmedizin an der Universität Münster.
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