Corona, Smart Praxis

Nicht gegeneinander – miteinander ist die Lösung! – Der Streit um Nachverfolgungs-APPs

Die Diskussion um Gästeregistrierung und Kontaktnachverfolgung hat erheblichen Schwung bekommen. Grund ist die App Luca und die Diskussion, ob es bundesweit nur eine solche App geben sollte. Ein Gespräch mit Theresa Willem und Dr. Tobias Opialla, die den Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit (InÖG) maßgeblich mitbegründet haben und für offene Schnittstellen werben.

von Usetree

Ihr seid seit 12 Monaten mit den Themen vertraut: Wie schätzt ihr die aktuelle Diskussion rund um die Tracing Lösungen ein?
Tobias Opialla: Wir begrüßen vor allem, dass die Themen die erforderliche Aufmerksamkeit bekommen. Es ist wichtig, dass die Notwendigkeit des aktiven Contact-Tracings wahrgenommen wird. Das ist ein wichtiger Zusatz zur Corona Warn-App. Wir verstehen die aktuelle Diskussion dabei als Chance mit guter Kommunikation für die Akzeptanz digitaler Lösungen zu sorgen. Speziell beim Contact-Tracing ist zu bedenken, dass viele Anwendungen bereits seit geraumer Zeit im Einsatz sind. Viele Lösungen sind mit Gesundheitsämtern getestet und seit mehreren Monaten unter den kritischen Augen des CCC und anderer Institutionen am Laufen. Diese Lösungen haben viele tausend Kunden und hatten – insbesondere vor dem aktuellen Lockdown – bereits viele Millionen Check-Ins registriert. Das sind erprobte und robuste Lösungen.

Wir plädieren in der aktuellen Diskussion für ein partizipatives Modell, also dafür, gemeinsam eine offene Schnittstelle zu schaffen. Die etablierten Tracing-Lösungen können schnell und standardisiert an die Gesundheitsämter angeschlossen werden. Die offene Entwicklung von Infrastruktur hat die große Stärke, dass Expertise demokratisch eingebracht werden kann. Andersherum wird bei der Entwicklung einer solitären Lösung alle Verantwortung auf ein einziges System gelegt. Die Frage ist außerdem, wie eine einzelne Lösung überhaupt in der Bevölkerung durchgesetzt werden soll. Wir sehen viele spezialisierte und vielfältige Lösungen, die auf die besonderen Bedarfe einzelner Sektoren zugeschnitten sind, wie Gastronomie und Veranstaltungen, Vereinssport, Schulen, oder das Arbeitsumfeld. Alle diese spezialisierten Lösungen können wir mit einer gemeinsamen Schnittstelle mitnehmen.

Als InÖG verfolgt ihr einen integrativen, pluralen Ansatz – alle bestehenden Lösungen sollen über eine einheitliche Schnittstelle (IRIS) mit SORMAS kommunizieren. Wie funktioniert IRIS und wie weit seid ihr in dem Projekt / wie rasch könnte es in den Kommunen eingesetzt werden?
Theresa Willem: Den pluralistischen, dezentralen Ansatz halten wir für unsere Gesellschaft für angemessen und sinnvoll. Dabei muss allerdings die Einbettung in die Systemarchitektur mitgedacht werden. Für die Integration von IRIS in SORMAS wurde deshalb bereits ein Prototyp entwickelt: Bei einem vorliegenden Corona-positiven Laborbefund legt das Personal in den Gesundheitsämtern in SORMAS einen Indexfall an. Mittels IRIS sucht das Gesundheitsamt automatisiert über alle Location-Datenbanken der Tracing-Lösungen hinweg nach den Aufenthaltsorten des Indexfalls. Dabei wird geprüft, ob digitale Kontaktdaten vorhanden sind. Die zugehörigen Personen könnten sich infiziert haben. Die Betreibenden der Locations werden aufgefordert, die so gefundenen Datensätze für das Gesundheitsamt freizugeben. Der Prozess leitet sich aus den Corona-Schutz-Verordnungen und dem IfSG ab. Dieser Ansatz funktioniert von Schule bis Altenheim, aber eben auch im Restaurant, beim Friseur, im Theater, Hotel, Konzertsaal, Schwimmbad oder der Bar um die Ecke. Gleiches gilt für die Daten aus persönlichen Kontakttagebüchern. Sollte der Indexfall nicht selbst ein digitales Kontakttagebuch nutzen, oder sich an einem Ort aufgehalten haben, das keine digitale Tracing-Lösung nutzt, greift der klassische Weg. Sobald die Freigabe erfolgt ist, landen die Daten über IRIS im Gesundheitsamt. Dort werden die potentiellen Kontaktpersonen automatisch als zu überprüfende Kontaktpersonen in SORMAS eingebettet und als offene Arbeitsaufgabe angezeigt. Grundsätzlich ist dabei entscheidend, dass alles direkt im SORMAS-System abläuft. Ein mühevolles und fehleranfälliges Abtippen und Sortieren von Papierlisten hat damit ein Ende.

Wenn so viele Tracing-Lösungen auf dem Markt sind, wie schätzt Ihr die Akzeptanz dieser Vielzahl an Lösungen seitens der Bürger ein? Diese wird ja häufig angezweifelt.
Theresa Willem: Da liegt meiner Meinung nach, ein Missverständnis vor. Bei den meisten Anbietern der Tracing-Lösungen ist das Interface für die Gäste eine WebApp: Wenn ich einen QR-Code am Eingang einer Bar oder beim Friseur einscanne, werde ich auf eine geschützte Website weitergeleitet. Dort trage ich meine Kontaktdaten ein. Ich installiere also gar keine App auf meinem Smartphone. Deshalb ist auch die Angst vor einer Überforderung der Nutzer durch eine Vielzahl an Produkten unbegründet.

Es gibt smarte Lösungen, die Formulardaten in einem Token auf den Endgeräten speichern. Wurde die Tracing Lösungen einmal benutzt, müssen die Daten nicht jedes Mal aufs Neue eingegeben werden. Und die Betreiber der Lösungen können ihren Gästen genau das Produkt zur Verfügung stellen, das am besten zu ihrer Situation passt. In unseren Augen ist das der beste Weg für alle.

Stünden wir am Beginn der Pandemie, würden wir uns für eine einheitliche Lösung aussprechen, so wie es ja auch mit der CWA zunächst umgesetzt wurde. Nun sind aber die unterschiedlichen Tracing-Lösungen da und haben tausende Verträge mit Betrieben geschlossen und viele Millionen Check-Ins registriert. Am Wichtigsten ist in jedem Fall dabei die Datensicherheit: Eine dezentrale Architektur erschwert den Mißbrauch von Bewegungsprofilen Einzelner und unserer Gesellschaft.

Was sind Eurer Meinung aktuell die größten Herausforderungen des ÖGD und was können Bund/Länder/Kommunen, aber auch die Digitalszene tun, um diese zu lösen?
Tobias Opialla: Das Virus hält sich nicht an Grenzen. Viele Strukturen sind aber so organisiert, dass sie räumlich der halben Tagesreichweite einer Kutsche entsprechen. (lacht) Nicht falsch verstehen, ich bin eigentlich ein Fan des Föderalismus. Föderalismus und Pluralismus sorgen gemeinsam für die notwendige Wendigkeit, um auf Krisen gut reagieren zu können.

Gleichzeitig erhöhen sie jedoch die Komplexität und erzeugen oft parallele Abläufe. Beispiel Kontaktnachverfolgung: Jedes Gesundheitsamt hat in der Krise eigene Wege gefunden, mit dieser Herausforderung umzugehen. Dabei sind ähnliche aber nicht deckungsgleiche Prozesse entstanden. Wenn wir diese digitalisieren wollen, müssen sie zumindest ein Stück weit vereinheitlicht werden. Dazu braucht es Standards, interoperable Daten und deren Erfassung. Für die Gesundheitsämter ist das – unter Laufenden Pandemiebedingungen – wie ein Umsatteln im Galopp.

Um da mitzureiten braucht man erstmal viel Verständnis für digitale Lösungen und deren Einführung, sowie die damit einhergehenden Prozessveränderungen. Das haben wir bei SORMAS gesehen und erleben es jetzt wieder in der Schnittstellen-Diskussion.

Gleichzeitig ist die Einführung von digitalen Werkzeugen und standardisierten Kanälen für den Informationsaustausch an den Gesundheitsämtern unsere vielleicht größte Chance, dem Virus aktiv entgegenzutreten. Wenn die Pandemie ein Brand ist, dann sind die Daten der Kontaktnachverfolgung das Löschwasser. Offene Schnittstelle wie IRIS sind dabei unverzichtbar. So wie die Wasserhydranten für die Feuerwehr. Wenn man sich dann noch vor Augen führt, was die Mitarbeiter:innen in den Gesundheitsämtern gerade leisten, ist der Vergleich mit Feuerwehrleuten nicht einmal weit hergeholt.

Wenn Ihr realistisch einen Blick in die nahe Zukunft wagt: Wie hat sich die aktuelle Situation bis Mai 2021 wohl aufgelöst – wie wird das Zusammenspiel aus Gästeregistrierung, Kontaktnachverfolgung und die Zusammenarbeit mit den Gesundheitsämtern funktionieren?
Tobias Opialla: “Vorhersagen sind schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen” – oder wie war das?

Das Öffnen bzw. Zugestehen von persönlicher Interaktion und das resultierende Infektionsgeschehen hängt neben der Kontaktnachverfolgung von vielen weiteren Faktoren ab: Impfen, Testen, neue Virus-Varianten, dem Einhalten der AHAL- und Corona-Regeln, und mehr.

Das Tracing, also die Ausbruchsermittlung, ist nach wie vor eine der wichtigsten Bestandteile. Aber auch hier hängt die erreichbare Effizienz wiederum von anderen Faktoren ab. Rechenbeispiel: Bei einer 50er Inzidenz im Lockdown mit jeweils 2–3 Kontaktpersonen pro Fall betreut ein kleines Gesundheitsamt 150 Kontaktpersonen pro Woche. Es wird geöffnet und wir nehmen jetzt 20–30 Kontaktpersonen pro Indexfall an. Dann sind es plötzlich 1000–1500 Kontaktpersonen, um die sich das gleiche Gesundheitsamt kümmern muss. Damit so hohe Zahlen bewältigt werden können, braucht es ein gutes Zusammenspiel. Durch digitale Tracing-Lösungen können die Verantwortlichen in Gaststätten, in Schulen und all den anderen Institutionen zusammenarbeiten und Kontaktketten durchbrechen. Die digitale Informationsübertragung ermöglicht dabei einfache Abläufe im Gesundheitsamt. Steigern wir die Effizienz, dann erhöht sich sofort die Belastungsgrenze der einzelnen Gesundheitsämter. Wenn möglichst viele Menschen Tracing-Lösungen nutzen, holen wir uns die Freiheiten zurück, die uns das Virus versucht zu nehmen. Wir können also alle an einem Strang ziehen, oder sagen wir: an vielen kleinen Strängen ziehen, die aber in einer gemeinsamen Schnittstelle münden und dort Wirkung entfalten.

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