Wo stehen wir aktuell bei der Impfung der Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen?
In Nordrhein-Westfalen sind wir so gut wie durch. Bereitschaft und Akzeptanz sind sehr hoch. In anderen Regionen verläuft es noch schleppend. Den Vorwurf der Impfskepsis und Impfverweigerung der Pflegenden kann ich nicht bestätigen, im Gegenteil. Wir haben jetzt verlässliche Informationen, wonach fast 80 Prozent der Pflegenden einen Termin haben oder bereits geimpft sind.
Wagen Sie eine Prognose: Wann werden die älteren Gruppen durchgeimpft sein?
Unabhängig von den Bewohnerinnen und Bewohnern der Langzeitpflegeeinrichtungen haben die meisten der über 80-Jährigen inzwischen einen Termin. In wenigen Wochen müsste diese Gruppe durchgeimpft sein.
Ein hoher Prozentsatz der an Corona Verstorbenen lebte in einem Heim. Warum haben wir die Alten nicht ausreichend schützen können?
Das hat eine Reihe von Ursachen. Ältere Menschen in einer Langzeitpflegeeinrichtung haben zum Teil etliche Erkrankungen und Einschränkungen und sind dadurch gefährdeter. Die älteren Menschen sind aber keine Insassen und isoliert, sondern haben Recht auf Besuch und Kontakt. Pflegende und weitere Personen kommen von außen in die Einrichtungen. Je mehr Menschen auf einem Raum sind, desto höher ist die Ansteckungsgefahr. Es gibt ein Dilemma zwischen dem totalen Schutz der Pflegebedürftigen auf der einen und dem Recht und Bedürfnis auf soziale Teilhabe auf der anderen Seite. Besser wird es durch mehr Testen, Testen, Testen und Impfen, Impfen, Impfen für alle Gruppen, die sich in den Heimen aufhalten.
Vor welchen Herausforderungen steht die häusliche Pflege in dieser Krise?
Die meisten Pflegebedürftigen leben in ihrem häuslichen Umfeld und haben Kontakt zu ambulanten Pflegediensten und pflegenden Angehörigen. Einen Impfstoff wie den von BionTech in einem Einzelhaushalt zu verimpfen, ist technisch und logistisch eine größere Herausforderung. Wir müssen auch die Pflegedienste und pflegenden Angehörigen mitimpfen, da beide Gruppen viele Außenkontakte haben. Beide Gruppen brauchen nach den 80-Jährigen eine Priority-Impfung.
Unabhängig von Corona ist die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- und Pflegebereich das große Thema der Pflegepolitik. Wie lassen sich die Sektorengrenzen überwinden und welche Rolle spielen dabei die Krankenhäuser?
Wir müssen wegkommen vom Denken in Zuständigkeiten. Oft werden Pflegebedürftige in ein Krankenhaus verlegt, weil die Pflegenden bestimmte Leistungen nicht erbringen dürfen. Pflege kann viel mehr, wenn wir sie machen lassen und die Berufe dafür qualifizieren. Es geht um mehr Anerkennung und Wertschätzung der Leistungen und Kompetenzen der Pflegeberufe. Wir kommen erst dann von unnötigen Einweisungen in Krankenhäuser weg, wenn die Gesundheitsfachberufe besser zusammenarbeiten können.
Was heißt das konkret?
Das Beharrungsvermögen ist enorm. Mit Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen ist es nicht getan. Wir brauchen von der Politik mutige Entscheidungen nach dem Prinzip „Wer es am besten kann, soll es machen, wo es am dringendsten notwendig ist“. Ziel ist eine Neujustierung der Zusammenarbeit und der Berufsordnung. Wir müssen das Zusammenwirken der Gesundheitsfachberufe auf andere Beine stellen.
Eine Krankenschwester im ambulanten Pflegebereich hat bei uns weder eine Verordnungsmöglichkeit noch eine Budgethoheit, international ist das längst üblich. Um gemeinsames Wirken möglich zu machen, braucht es mehr gemeinsames Lernen und Studieren.
Was sind Ihre Erwartungen an die Pflegepolitik in diesem Jahr?
Pflegepolitik muss ein herausragendes Thema bleiben. Es geht um die Zukunftsfähigkeit von Pflegefinanzierung und -versicherung, den einfachen Zugang zu Pflege, sektorenübergreifendes Denken, die Verbesserung der Attraktivität der Berufe und Rahmenbedingungen, bessere Ausbildung und Studium, mehr Autonomie des Pflegeberufs, den besseren Einsatz von Digitalisierung, Zuwanderung von Fachkräften und das Zusammenwirken der Gesundheitsfachberufe als zentrales Thema für die Versorgungssicherheit.
Welchen konkreten Beitrag kann die Digitalisierung der Pflege leisten?
Digitalisierung muss nutzen, etwa indem mehr Zeit, die wir bislang für die Dokumentation aufbringen, für die Pflege von Menschen eingesetzt wird. Im Zentrum müssen die Interessen und Bedarfe der Pflegenden und der Pflegebedürftigen stehen. Statt um Papier und Versichertenkarten geht es um patientensichere digitale Lösungen wie die elektronische Patientenakte. Digitale Assistenzsysteme können den Wunsch vieler Menschen unterstützen, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden gepflegt zu werden. Ich möchte in einer Welt leben, in der ich am Ende entscheide, mit welchen Prioritäten mir mein Wunsch, so lange wie möglich selbstbestimmt zuhause zu bleiben, erfüllt werden kann. Und wenn ich dafür ein Stück meiner Freiheit beim Datenschutz aufgebe, um nicht in eine stationäre Einrichtung wechseln zu müssen, dann möchte ich das entscheiden. Datenschutz muss immer auch dem Menschen dienen.
Foto: Holger Gross
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