Nun ist er also da, der November – und mit ihm unsere (vorerst letzte) Chance, den drohenden Kollaps des Gesundheitssystems unter COVID-19 noch abzuwenden. Ein Schlüssel wird auch die erfolgreiche Kontaktnachverfolgung der positiv Getesteten sein, die in den vergangenen Wochen aus dem Ruder gelaufen ist. Eben diese bewahrte uns hierzulande in den Anfangsmonaten der Pandemie vor Schlimmerem. Ein Projekt der Medizinischen Hochschule Hannover, unterstützt vom BMG, tritt nun an, die Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung zu unterstützen (MHH Presse).
Dr. Gernot Beutel, Oberarzt an der Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie, Onkologie und Stammzelltransplantation der MHH, hat gemeinsam mit dem Geodaten-Experten Jens Wille das Forschungsprojekt KADOIN = Kartenbasierte Dokumentation von Indexpatienten aufgesetzt. KADOIN untersucht eine mögliche Digitalisierung der Kontaktpersonenermittlung und evaluiert, inwieweit ein szenisches Gedächtnisprotokoll die Datenqualität verbessern kann.
Lieber Herr Dr. Beutel, KADOIN klingt ein bisschen wie Geocashing für Fortgeschrittene – wo liegt der Ursprung Ihrer Idee?
Die ursprüngliche Idee stammt in der Tat aus der EHEC-Krise, in der es ebenfalls relevant war, sich die Wege der Patient:innen zu verdeutlichen. Auch hier waren wir auf der Suche nach der Ursache: Den mit Darmbakterien kontaminierten Bockshornkleesamen. Immerhin konnten wir damals tatsächlich das Netz der Verbreitung rund um einen Biohof in Norddeutschland zurückverfolgen.
Was heißt das, übertragen auf die heutige Situation der Kontaktnachverfolgung?
Heute ist unser Ansatz ein wenig verändert. Wir gehen davon aus, und das werden wir hoffentlich über die gerade initiierte Machbarkeitsstudie beweisen können, dass ein szenisches Gedächtnisprotokoll die Datenqualität verbessert und so die Gesundheitsämter unterstützt werden. Dafür haben wir eine karten- browserbasierte, datenschutzkonforme Anwendungssoftware entwickelt, in der die Personen ihre Wege der vergangenen Tage nachvollziehen können, um an den infrage kommenden Standorten ihre Kontakte einzutragen. Aus unserer Sicht ein sinnvollerer Weg der Rekonstruktion, als Betroffene am Telefon abzufragen.
Was meinen Sie damit?
Die Anwendung kommt in dem Moment zum Tragen, in dem der Mitarbeiter des Gesundheitsamtes einen positiv Getesteten kontaktiert, um mittels Telefoninterview die Kontaktpersonen zu erfragen (Kontaktpersonennachverfolgung). Jeder kann sich vorstellen, welche Stresssituation dies voraussichtlich bei den meisten Menschen hervorbringt. An die Befundmitteilung “SARS-CoV-2 positiv” einen Fragebogen anzuschließen, auf dem momentan die Nachverfolgung der Kontakte durch das Amt beruht, führt womöglich nicht zu vollständigen Ergebnissen. Aufregung und Angst setzen dem Gedächtnis zu und führen zur Überforderung.Wie also schafft es Ihre Anwendung in dieser Situation, vollständige Informationen von den Menschen zu bekommen?
In dieser Situation? Gar nicht (lacht). Deswegen setzen wir ja auf KADOIN. Es erlaubt den Bürger:innen, ihre Kontakte zeitlich unabhängig von den Behörden zu dokumentieren, so dass nach dem ersten Schrecken und einer medizinischen Beratung die Kontaktpersonen digital übermittelt werden können – multilingual und barrierefrei.
Wie geschieht das ohne Telefonieren bzw. das direkte Gespräch?
Sie müssen sich das in etwa wie ein visuelles Dokumentationssystem vorstellen, dass zur Unterstützung des Gedächtnis‘ – ähnlich eines Navis – auf einer Karte basiert. Im Unterschied zu einer zeitlich begrenzten telefonischen Befragung werden die Betroffenen per Mausklick an ihre letzten Aufenthaltsorte geführt und sollen sich so leichter an konkrete Situationen erinnern. Die dazugehörigen Kontaktpersonen können dann direkt an den Standorten eingetragen werden.
Wie sieht das Prozedere aus Sicht des Gesundheitsamtes aus?
Bis zur Nachricht des positiven Testergebnisses bleibt alles beim Alten. Dann erfolgt jedoch kein aufwendiges Telefoninterview, sondern nach einem persönlichen Erstkontakt die Einladung zur digitalen Befragung über einen personalisierten Link. Abgerufen wird die Anwendung über das Internet. Der eigentliche Einsatz erfolgt jedoch ausschließlich lokal auf dem Endgerät der Benutzer. Da die Daten nicht auf zentralen Servern oder in einer Cloud gespeichert werden, ist ein Zugriff durch die Behörden erst möglich, wenn der Nutzer selbst die von ihm erfassten Informationen aktiv an das zuständige Gesundheitsamt übermittelt.
Ganz schön viel Aufwand für einen etwas relevanteren Outcome …
Womöglich haben Sie an diesem Punkt, zum jetzigen Zeitpunkt sogar recht. Und in der Tat könnte das System in diesem Szenario weitere wertvolle Informationen sammeln und die Versorgung damit unterstützen bzw. berechenbarer machen – im wahrsten Sinne des Wortes. Denkbar ist, KADOIN mit einem smarten Symptomtagebuch zu vernetzen, um kombiniert mit einem Monitoring der Krankheitsverläufe auch die Patientenströme und benötigte medizinische Ressourcen vorherzusagen. Zudem können für das Gesundheitswesen wertvolle Informationen hinterlegt werden wo eventuell Test- oder auch Versorgungskapazitäten bereitstehen. Bereits bestehende Informationen, die unter Einbeziehung eines realitätsnahen Datenschutzes darauf warten zusammengeführt zu werden.
Diese erste Studie ist also nur ein Stück der möglichen Ausbaustufen, deswegen aber nicht weniger wichtig. Es wäre großartig, weitere Studienteilnehmer und Interessierte zu gewinnen, die mich gern direkt unter kontaktieren können.
Fotos: MHH / Karin Kaiser
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